Erfreut stelle ich fest: Sie sind immer noch da! Dabei hätten Sie diese Räume schon längst fluchtartig verlassen müssen, schreiend, mit verzerrtem Gesicht und verstörtem Blick! Wussten Sie nicht, dass uns hier «Gruselkunst», «Horrormalerei» gezeigt wird, dass dies «perverse, morbide Pornographie» ist? Solche Ausdrücke liest man häufig, wenn von Giger und seiner Kunst die Schreibe ist. Doch anscheinend stimmt das nicht, denn ich sehe Sie gelassen, sogar heiter — und unversehrt sind Sie auch: Der Beweis, dass HR keinem von Ihnen Arme oder Beine ausgerissen hat, um daraus eine Basler Armbeinda zu gestalten …
«Warten auf Godot II» (aus der Reihe «Ein Fressen für den Psychiater»), 1966,
in «schöngeist/bel esprit»,
D-Bremen,
Heft Nr. 6, Frühjahr 1966, 3. Jg,
r.u. von HRG in Bleistift signiert
Die Empfehlung an die Lehrerschaft anlässlich der Retrospektive im Seedamm-Kulturzentrum lautete wortwörtlich: «Die Welt, aus der H.R. Giger seinen Stoff holt und die Art, wie er diesen zur Darstellung bringt, entspricht unseres Erachtens nicht vorbehaltlos dem Denk- und Sehvermögen speziell jüngerer Schüler.». Mir scheint, entweder traute man der Lehrerschaft nicht zu, sie könne sich mit Giger auseinandersetzen, oder man wollte vermeiden, dass sich der eine oder andere Lehrer mit seinen Schülern über diese Welt unterhalten müsse. Dabei könnte man mehr als glücklich sein, wenn ein zeitgenössischer Künstler mit seinem Werk auch die jüngeren Generationen erreicht und anspricht. Kinder und Jugendliche fühlen sich in Gigers Umgebung überaus wohl: Vorgestern erhielt ich auf die Frage, weshalb ihm denn Gigers Werke gefielen, weshalb er das nicht als Horror empfinde, die einfache Antwort: «Das sind doch Bilder — weshalb sollte ich mich davor fürchten? Und diese Kunst ist etwas ganz Besonderes, die Werke sind perfekt gemacht und wunderschön.»; so sieht ein zwölfeinhalbjähriges Kind Gigers Kunst.
«Passage XXVII», 1973, WV #224, Acryl auf Papier/Holz, 100 x 70 cm;
Kunstkarte, 1993, Benedikt Taschen Verlag GmbH, D-Köln;
von HR Giger handsigniert
Natürlich ist solche Kunst nicht nett, nicht unbedingt und nur lieblich, und harmlos sowieso nicht — es ist schliesslich kein Kitsch. Wahr ist ebenso: Gigers Werke können provozieren, d.h. aber nichts anderes, als dass sie zum Denken anregen. Offensichtlich haben seine Bilder und Figuren auch mit Furcht, mit Sex, mit Gewalt zu tun. Wenn Sie aber länger und genauer hinschauen, werden Sie weitere «Menschlichkeiten» entdecken: Trauer, Brüderlichkeit, Zärtlichkeit, sogar Liebe.
«Death-Bearing Machine III», 1977, WV #355, Serigrafie, 69.6 x 49.0 cm, Auflage 100 Ex.
Bei Giger gibt es nicht DAS Gute und DAS Böse, DAS Anziehende und DAS Abstossende, schön säuberlich voneinander getrennt: Seine Schöne ist zugleich ein Biest, und sein Biest ist gleichzeitig schön. Für ihn sind Anmut und Ekel, Gewalt und Zärtlichkeit, Leben und Tod miteinander verbunden, gehen ineinander über, sind ganz einfach Teil desselben Dings, das wir «menschliches Dasein» nennen. Giger bringt in seiner schöpferischen Arbeit eines zustande: Er reisst den Schein und das Heilige, die scheinheilige Verpackung ab und zeigt das Innere, das dennoch — oder gerade weil es derart vielschichtig und facettenreich ist — wunderschön sein kann. HRG zeigt den Teil unserer Wirklichkeit, dem wir uns gerne entziehen, er sitzt das aus, was andere verschlafen, er steht das durch, wovor man flieht: Das Erkennen des eigenen Ichs in möglichst all seinen Farben und jeder Schattierung. Es ist gesünder, aber schwieriger, den Wahnsinn auszuhalten, als in ihn zu flüchten.
Ursprünglich lernte Giger Innenarchitekt; ich finde, er ist es bis heute geblieben: Als Gestaltgeber der eigenen und damit der allgemein menschlichen Innenräume lässt er sie mit ungewöhnlicher Klarheit und ungemein verführerischer Anziehungskraft in einem Bild, einer Zeichnung oder einer Figur sicht- und greifbar werden.
«Biomechanical Landscape III (Trains)», 1979
Als Darsteller der menschlichen Innenarchitektur könnte man ihn durchaus einen Surrealisten nennen, doch ist seine Kunst nicht realer, wirklicher und wahrhaftiger als das, was uns täglich z.B. in den Medien untergeschoben wird? Weshalb sollten ein CNN-Bild oder die sog. «virtual reality» wahrer sein als Gigers Werk?
Allerdings fordert Giger dem Betrachter etwas ab, nämlich die Auseinandersetzung mit seinem Werk. An zwei Beispielen will ich versuchen, Ihnen zu zeigen, was ich damit meine:
Nehmen Sie die hier gezeigte sog. «Teiltötungsmaschine», auch «St. Galler Kravatte» genannt, ein Gegenstand für den Film «Kondom des Grauens». Man kann diese Guillotine als belanglosen Gag verstehen, als Erfindung eines kranken Gehirns oder als reine Provokation. Und wenn mehr dahinterstecken würde, wenn bereits der Name nicht Zufall wäre? Es gibt in St. Gallen ein Bohème-Lokal, ein Restaurant, genannt «Haus zur letzten Latern». Dort hingen seit längerem mehrere Giger-Zeichnungen und -Lithos, ganz einfach, weil sie Urs Tremp, dem Wirt gut gefielen. Im Oktober 1992 schritt auf Anzeige zweier weiblicher Gäste das städtische Gewerbekommissariat ein und verfügte das Entfernen der Bilder. Die Zensur der Sittenwächter wurde sogar vom Bundesgericht im Urteil vom 15. Juni 1994 geschützt. Für einen Künstler sind solche Erlebnisse immer herbe Enttäuschungen, denn er fühlte sich missverstanden und zu Unrecht verurteilt. Was aber soll er tun? Giger antwortete als Künstler, schuf unter dem Titel «Lehrtafeln zur Aufklärung der St. Güllener» — der Name erinnert an Dürrenmatts Stück «Der Besuch der alten Dame» — eine Serie farbiger Zeichnungen mit bissigen Texten sowie eben diesen Kastrationsapparat, die «St. Galler Kravatte».
Ein anderes Beispiel: Die Sternzeichen-Figuren des Zodiac-Brunnens, eines seiner laufenden Projekte: War es notwendig, den Skorpion «mit Schuss in die Kniekehle», die Waage als Handgranaten-ping-pong spielendes Paar zu formen? Für Giger war das nötig und richtig, denn sein Brunnen ist ein heutiger Brunnen und kein Abklatsch vergangener Zeiten, und bekanntlich gehören Drogen und Handgranaten zum 20. Jahrhundert — weshalb sie also der Kunst entziehen?
«Crosswatch with the head of a nail», 1993, WV #WA6,
Gussaluminium, 22.5 x 23.0 x 4 cm, 70 g, sig. «E.d.A. H Giger 93»,
Einzelstück (Probe) zur Normalausgabe in Silber (Auflage 23 Ex.)
Gigers Werke haben durchaus einen ernsten Hintergrund, doch glücklicherweise werden sie nicht mit dem erhobenen Finger des ach-so-betroffenen Kulturschöpfers vorgebracht: Wenn Sie die ausgestellten Werke genauer betrachten, werden Sie Gigers schwarzen Humor hervorblitzen sehen, seine spielerische Lust auf Gedanken- und Wortspiele, den frechen Witz. Ebenso entdecken Sie seine kritische, zwiespältige Liebe zur Schweiz, seine zärtlichen Zweifel an der Gesellschaft, die Sorge um die Zukunft des Menschen und eine (meist stille) Trauer über das Leid in dieser Welt: Schauen Sie in die Augen seiner Wesen, und sie spüren, was in Ihnen selbst verborgen liegt.
Für mich ist HR einer der wichtigsten, eigenständigsten und schöpferischsten Zeitgenossen, er gehört sicher zu den weltweit bekanntesten Schweizer Künstlern unseres Jahrhunderts, und es war an der Zeit, ihn hier mit einer grossen Ausstellung zu würdigen, denn er wuchs zwar in Chur auf, stämmig ist er aber aus Basel. Hier fand 1962 seine erste Gruppenausstellung statt, er war an mehreren Art vertreten, und seine «one man show» bei der Galerie HILT an der Art 22'91 ist mehr als legendär. Es ist seine allererste Einzelausstellung in dieser Stadt — nachdem Berlin, Paris, New York, Tokio und andere Metropolen ihn längst gezeigt haben.
«Lamp», 1993, WV #WA73b, Gussaluminium und Polyesterharz (bemalt),
71 x 36 x 20 cm, 3'570 g, sig. «HRG 93» (ext)/«H Giger 93» (int), num. 4/5
Nun wünsche ich Ihnen viel Provokation, viel Lust und viel Genuss beim Aufspüren der Gigerschen und unserer eigenen Welt. Was uns dieser Meister des visionären, phantastischen Realismus nach Basel gebracht hat, ist — für mich — Kunst im besten Sinne, es sind höllisch-schöne Werke! Und selbst wenn ich unrecht hätte — ein Buchkritiker schrieb einmal: «Man muss Giger nicht mögen, aber zumindest gesehen haben sollte man seine Sachen.».
(Enrico Ghidelli, 18. Januar 1997, speech an der Vernissage zur Ausstellung «Projekte» der Galerie HILT in Basel; redigiert Feb08, ergänzt Feb13/Jun14)